Leben an der Grenze: El Paso - Stadt mit Hybridseele

Die US-amerikanische Stadt El Paso ist kein schöner Ort. Mitten in der Wüste ist es staubig und das Kulturprogramm ist recht überschaubar. Die Südlink-Kolumnistin Lourdes Cárdenas erzählt, warum sie trotzdem gerne hier lebt. Die Stadt bietet eine unverwechselbare Mischung zweier Kulturen.

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El Paso – Stadt in der Wüste

Wie es der Name bereits andeutet, begegnen viele El Paso „auf der Durchreise“. An der US-mexikanischen Grenze zwischen Texas und Chihuahua gelegen, führt für viele an der Stadt kein Weg vorbei, um in die USA zu gelangen.

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Für andere hingegen ist diese trockene, heiße und staubige Stadt der perfekte Antipode zu dem, was die Grenze bedeutet. Hier scheinen sich die Identität und das Gefühl von Zugehörigkeit aufzulösen. Der große Metallzaun, der an die Trennung von „uns” und „ihnen” zu erinnern versucht, hat hier einen wahrhaft symbolischen Charakter. Die Grenze zerfließt, um einen einzigartigen und unverwechselbaren Ort zu schaffen.

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El Paso ist weit davon entfernt, eine schöne Stadt zu sein. Im Gegenteil, mitten in der Wüste sind ihre Farbstufen sandig, besonders zu Beginn des Sommers, wenn Wind und aufgewirbelter Staub die Sicht erschweren und den Himmel in ein blässliches Gelb tauchen. Bäume sind rar und im Flussbett des Río Grande öffnen sich Risse, die die Trockenheit anklagen.

Auch ist El Paso nicht die vibrierende Stadt, die wie Los Angeles oder Dallas Konzerte, Theater, Kino und Musik auf internationalem Niveau zu bieten hat. Ihrer Architektur mangelt es an der Persönlichkeit Bostons und ihr intellektuelles Leben ist armselig, nicht zu vergleichen mit Cambridge oder Austin. Als wäre das noch nicht genug, ist die Armut in der Stadt sichtbar, drei von zehn Einwohner/innen leben unterhalb der Armutsgrenze.

Eine unverwechselbare Kultur der Grenze

Trotzdem lebe ich nun seit sechs von insgesamt 14 Jahren, die ich in diesem Land verbracht habe, in El Paso und habe hier das gefunden, was es in keiner anderen Stadt der USA gibt.

El Paso ist eine absolut binationale Stadt. In diesem Raum stehen sich zwei Eigenarten und zwei Sprachen gegenüber, umarmen sich und vermischen sich, um eine Kultur der Grenze zu schaffen – in einem Territorium, das formell zwar zu den USA gehört, aber eine der mexikanisiertesten Regionen des Landes darstellt.Das ist nicht zufällig so. El Paso ist buchstäblich mit seiner Nachbarstadt Ciudad Juárez vereinigt. Nicht nur durch seine räumliche Grenze, sondern durch eine Reihe wirtschaftlicher Faktoren, die diese Region mit einer Bevölkerung von insgesamt fast zwei Millionen Menschen zur zweitgrößten binationalen Metropole der Grenzregion machen.

Die enge Symbiose setzt in der Praxis viele der Themen außer Kraft, die den USA in Bezug auf Migration und staatliche Souveränität Sorge bereiten. Zwar nicht offiziell, aber de facto ist El Paso ein „Zufluchtsort” für Migrant/innen ohne Papiere, denn sie erlaubt nicht, dass diese behördlich oder durch die Polizei verfolgt werden. Die Hispanos, die überwiegend mexikanischer Abstammung sind, stellen heute 85 Prozent der Bevölkerung in El Paso. Spanisch ist die dominante Sprache und niemand stellt dies in Frage.

Wenn man an der Grenze lebt und das Glück hat, über einen geregelten Aufenthaltsstatus zu verfügen, existiert keine Nostalgie für das Herkunftsland. Zu Fuß passiert man von El Paso aus in zwei Minuten die internationalen Brücken, die nach Ciudad Juárez führen. Etwa 250.000 Personen überqueren sie pro Tag, sei es um zu arbeiten, zu studieren, um die Familie zu besuchen, echtes mexikanisches Essen zu genießen oder einfach um einzukaufen.

Bei dieser vorübergehenden Rückkehr begegnet man unvermeidbar auch der schmerzhaften Realität Mexikos, also der alltäglichen Gewalt, der Korruption auf allen Ebenen, der Ungerechtigkeit, der Straflosigkeit, der kränkenden Armut. Nicht, dass diese Probleme auf dieser Seite der Grenze nicht ebenso existierten. Auch in den USA gibt es viel Korruption, aber im Gegensatz zu Mexiko betrifft dies nicht die gewöhnlichen Bürger/innen in ihrem Alltag. Hier wird kaum jemand versuchen, einen Polizisten zu bestechen, während dies auf der anderen Seite der Grenze die Norm darstellt.

Das Beste und das Schlechteste beider Welten

In den USA hat man bestimmte Gewissheiten. Wenn man ein Stoppschild überfährt, vergisst, die Anmeldegebühr für das Auto zu zahlen oder Müll auf die Straße wirft, muss man nicht nur eine Strafe zahlen, sondern die Vergehen werden auch in einer Akte festgehalten. Auf eine Art ist es ein Polizeistaat, der sicherstellt, dass die Gesetze in den meisten Fällen angewendet und die Regeln des Zusammenlebens respektiert werden. In Mexiko existieren solche Gewissheiten nicht immer. Die Korruption und die Straflosigkeit durchdringen das soziale Leben enorm.

In El Paso zu leben garantiert daher, das Beste beider Welten zu haben, obwohl das häufig auch bedeutet, das Schlechteste beider Welten zu haben. Im Grenzgebiet zu leben heißt, sich inner- und außerhalb der USA und gleichzeitig inner- und außerhalb Mexikos zu befinden.

Bruce Berman, ein ursprünglich aus Chicago stammender Fotograf, der seit drei Jahrzehnten in El Paso lebt, bezeichnet diese Region als „Niemandsland”. Er meint damit nicht eine chaotische Stadt, sondern eine Stadt, in der sich die Gewissheiten der Identitäten auflösen.

Die Möglichkeit zu haben, in beiden Welten zu leben, ist etwas Unbezahlbares. Du spürst Dein Herkunftsland in der Sprache, der Wärme der Menschen, in der Verbundenheit mit Traditionen – vor allem der katholischen – sowie in der Spontaneität und dem Humor. Die Leute hier verstehen, dass es nichts mit sexueller Belästigung zu tun hat, sich mit einem Kuss auf die Wange zu begrüßen, es normal ist, ohne vorherige Ankündigung einen Freund zu besuchen und die Feste nicht aufhören „bis sie aufhören“. In anderen Worten: Die Strenge der US-Kultur ist in dieser Stadt fast nicht vorhanden.

Wie bereits gesagt, ist El Paso keine schöne Stadt. Aber sie hat eine schöne Hybridseele, die sie zu einem idealen Ort für jene macht, die wir ebenfalls eine hybride Identität haben.


Aus dem Spanischen von Tobias Lambert.

Diese Kolumne erscheint in Zusammenarbeit mit dem Nord-Süd-Magazin Südlink; Herausgeber: INKOTA-netzwerk.